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Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
Dass Tina (Eva Melander) speziell ist, merkt man schon im ersten Bild, einer Großaufnahme ihrer Hand: Die ist plump und grobgliederig, mit dunklen Rändern unter den Nägeln und greift irgendwie gierig nach einem Insekt.
Kurz darauf sieht man Tina ganz. Die kleinen Augen liegen tief in den Höhlen, die Haare sind strähnig, die Nase ist groß. Mit ihr kann die Grenzbeamtin außergewöhnlich gut riechen. An Menschen, die mit Schmuggelware die Grenze überschreiten wollen, erschnuppert sie Schuldbewusstsein und Angst, ihre Erfolgsquote ist tadellos. Sogar einem Mann, der auf einem gut versteckten Chip Kinderpornodateien einschmuggeln wollte, kommt sie auf die Spur.
Aber Tina sieht fremd aus, und mit dem Fremden haben Menschen ein Problem: Wenn die grobschlächtige Uniformierte am kleinen, dänisch-schwedischen Grenzübergang steht, spiegeln die Gesichter der Besucher Abscheu.
!["Border" Filmkritik - Immer dieser Nase nach! (1) "Border" Filmkritik - Immer dieser Nase nach! (1)](https://i0.wp.com/cdn.prod.www.spiegel.de/images/974614aa-0001-0004-0000-000001397607_w488_r1.778_fpx35.44_fpy44.97.jpg)
Fotostrecke
"Border": An den Grenzen der Gesellschaft
Foto: Wild Bunch Germany
"Unser Verhältnis zu Ästhetik in den Medien ist verdreht", sagt Regisseur und Co-Autor Ali Abbasi im Interview. "Im Mainstream-Kino oder Serien sind alle Protagonisten überwältigend hübsch. Für mich gehören solche Hollywoodfilme jedoch zum Surrealismus." Er habe, so Abbasi, lieber zeigen wollen, was passiert, wenn komisch aussehende Außenseiter sich verlieben, Sex haben, Liebeskummer erleben.
Sein in satten, natürlichen Farben gehaltener zweiter Film bietet nicht nur erstaunliche Protagonisten, sondern bewahrt deren Geheimnisse lange: Hat eine Genmutation Tina das klobige Aussehen beschert? Woher hat sie die Narbe auf dem Steißbein? Wieso bellen die Hunde ihres langweiligen Freundes Roland (Jörgen Thorsson) wie verrückt, wenn Tina sich ihnen nähert? Und vor allem: Wer ist Vore (Eero Milonoff)? Dieser Mann, der Tina auf erstaunliche Art ähnelt, und eines Tages in mehr als einer Hinsicht ihre Grenze überschreitet?
Als "Border" 2018 das erste Mal bei den Filmfestspielen von Cannes gezeigt wurde, war die Überraschung, die Abbasi kurz vor dem dritten Akt bereithält, groß: Kaum jemand hatte mit dieser Lösung, mit dieser Erklärung gerechnet. Lange ist man bis dahin im Dunkeln der schwedischen Wälder getappt, durch die man mit der gern unbekleideten Tina streifte - sie hat eine Vorliebe für die Natur und für das direkte Empfinden von Moos und Baumrinde auf ihrer Haut.
"Border"
Originaltitel: "Gräns"
Schweden, Dänemark 2018
Regie: Ali Abbasi
Drehbuch: Ali Abbasi, Isabella Ekläf nach einer Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist
Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jörgen Thorsson
Verleih: Wild Bunch
Länge: 110 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Start: 11. April 2019
Doch in der Folge von Abbasis Triumph (der Film wurde in Cannes mit dem "Un Certain Regard"-Hauptpreis ausgezeichnet und ging als schwedischer Beitrag ins Oscar-Rennen) erschienen immer mehr begeisterte Rezensionen, die Tinas Geheimnis vorab lüften. Das ist schade - wer wirklich verblüfft und gerührt sein will, dem sei ans Herz gelegt, nicht weiter über den Film zu recherchieren, bevor er ihn gesehen hat. Dieser Text wird ihn jedenfalls nicht spoilern.
Abbasi inszenierte seinen Film nach einer Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist, dessen Vampirroman "So finster die Nacht" 2008 bereits von Tomas Alfredson als düsteres, sich keinen Deut um Genregewohnheit scherendes Drama adaptiert worden war. Doch "Border" unterscheidet sich inhaltlich und in der Sprache ziemlich von seiner an ein Groschenheft erinnernden literarischen Vorlage.
Er ist zudem so viel mehr als ein Ratespiel über die Identität einer Person: Er ist eine gütige, auf eine erstaunliche Weise genderfluide Liebesgeschichte zwischen Außenseitern, die Wahrheiten über sich entdecken. "Es geht um die Erfahrung, in der Minderheit zu sein, egal wodurch - ob durch das Aussehen, den finanziellen Status oder die Hautfarbe", sagt Abbasi, der selbst als emigrierter Iraner eine Außenseiterposition in seiner Wahlheimat Dänemark einnimmt.
"Border" fungiert dazu als Thriller, bei dem (in einem zuweilen ausschweifenden, von Abbasi hinzugefügten Erzählstrang) ein Kinderpornoring ausgehebelt wird. Und als Selbstfindungsgeschichte einer Person, die alle Normen sprengt. Vor allem ist er eine humorvolle, aber auch sinistre Beobachtung Schwedens und der dort ausgestellten Toleranz, die, wenn man tiefer gräbt, wackelt: Tinas Freund Roland mit seinem weichen Wesen, seinem Hippiezopf und seiner Ignoranz gegenüber den Problemen seiner Freundin wirkt wie die Karikatur eines aufgeklärten Mannes, der scheinheilig alles akzeptiert - und Tina dann doch im entscheidenden Moment alleinlässt.
Das berufliche Umfeld Tinas mit oberflächlich freundlichen Kollegen, die zwar Tinas Fähigkeiten nutzen, sie aber nicht wirklich akzeptieren, und das Handeln von Tinas Eltern, das sie irgendwann schockiert durchschaut, bezeugen, und das ist der traurige Kern von Abbasis Fabel, eine tiefsitzende Xenophobie. Zu der Tina trotzdem eine Haltung entwickeln muss.
Mit "Border" habe er "endlich mal Mainstream" machen wollen, sagt Abbasi nicht ganz ernst. Von jeder Art von (Horror- oder Fantasy-) Genre hält er sich jedoch bewusst fern - und entlehnt dennoch Merkmale daraus. Eva Melander und Eero Milonoff wurden täglich stundenlang in der Maske verwandelt (die Leistung der Maskenbildner würdigte eine Oscar-Nominierung), um vor der Kamera anders, aber nicht wie Monster auszusehen. Denn das sind Tina und Vore absolut nicht. Tina wird gar etwas Schönes widerfahren, sie wird die schwedische Gesellschaft erweitern. Womit - das sollte man sich unbedingt selbst angucken.